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Die Chancen einer transnationalen Verständigung in einem vereinten Europa: Emotionale Sprachbindung und Fremdsprachenerwerb (107)

Projektlaufzeit:

Projektleiter: Prof. Dr. Jürgen Gerhards

1. Fragestellung

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Beginn einer tief greifenden Veränderung der Welt, ein Prozess, der mit dem Begriff der Globalisierung umschrieben wird. Das Ausmaß, die Dichte und das Tempo des Austauschs zwischen verschiedenen nationalen Gesellschaften und zwischen den verschiedenen Regionen der Welt haben seit dieser Zeit enorm zugenommen. Dies gilt vor allem für eine Region der Welt: Europa. Der politische Prozess der europäischen Integration hat die (zu Projektbeginn) 27 Mitgliedsländer der EU zunehmend füreinander geöffnet und den Austausch zwischen ihnen erhöht. Mit der EU ist der größte Binnenmarkt der Welt entstanden. Da in Europa 23 Amtssprachen und mehrere Minderheitensprachen gesprochen werden, ähnelt die Sprachsituation der EU einer babylonischen Sprachverwirrung.

Wollen die Bürger Europas am Europäisierungsprozess partizipieren, müssen sie die Sprache des jeweiligen Landes sprechen. Die Verfügung über transnationales linguistisches Kapital wird damit zu einer entscheidenden Ressource der Teilhabe am Europäisierungsprozess. (1) Wer in Europa spricht aber wie viele Fremdsprachen? Und (2) warum verfügen die Menschen in manchen Ländern der EU über eine sehr gute Ausstattung mit transnationalem sprachlichem Kapital und können sich auf Englisch verständigen und warum ist das in anderen Ländern nicht der Fall?

2. Methoden, Ergebnisse und Perspektiven

Methoden

Grundlage der Untersuchung bildete eine statistische Auswertung einer Befragung, die in den im Projektzeitraum 27 Ländern der EU durchgeführt wurde (Eurobarometer 63.4). Die Auswertung erfolgte mit Hilfe von Kreuztabellen und Regressionsanalysen sowie Mehrebenenanalysen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Unterschiede sowohl zwischen den EU-Ländern als auch innerhalb der Länder beträchtlich sind. Um diese Unterschiede zu erklären, wurde ein theoretisches Modell der Erklärung formuliert: Die Gelegenheiten zum Erwerb einer Fremdsprache, die Kosten, die mit dem Lernen einer Fremdsprache verbunden sind und die Motivation, eine Fremdsprache zu erlernen, sind die drei zentralen Elemente des Kernmodells der Erklärung. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die die Menschen eingebettet sind, wirken auf diese drei Dimensionen ein und bestimmen, wer über transnationales Kapital verfügt und wer nicht. Die aus dem Erklärungsmodell abgeleiteten Hypothesen wurden dann bivariat und multivariat empirisch getestet.

Ergebnisse

Das Projekt führte zu zwei Ergebnissen: So zeigen die Analysen, dass erstens mehr als 50% der Bürger keine Fremdsprache sprechen; deren Partizipationschancen am Europäisierungsprozess sind damit sehr eingeschränkt. Die Auswertungen zeigen darüber hinaus, dass es enorme Unterschiede zwischen den Ländern und innerhalb der Länder gibt. In den Niederlanden sprechen z.B. mehr als 90% der Bevölkerung mindestens eine Fremdsprache, in Ungarn weniger als 30%. Ähnlich verhält es sich mit der am häufigsten gesprochenen Fremdsprache in Europa: Knapp die Hälfte der Bürger Europas kann sich in Englisch unterhalten. Aber auch hier zeigen sich gewaltige Unterschiede innerhalb der Länder und zwischen den Ländern. Zweitens zeigt die Kausalanalyse, dass u.a. die Größe eines Landes und der Verbreitungsgrad der Muttersprache die Motivation und die Notwendigkeit, eine zweite Sprache zu lernen, negativ beeinflussen. Der Modernitätsgrad eines Landes und das Entwicklungsniveau des Bildungswesens haben einen positiven Einfluss auf die Mehrsprachigkeit. Mit Rückgriff auf die Klassentheorie von Pierre Bourdieu kann man zeigen, dass die Klassenlage und die Bildung des Befragten zentrale Größen auf der Mikroebene sind, die die Verfügung über transnationales Kapital begünstigen. Hinzu kommen das Alter des Befragten, sein Migrationshintergrund und schließlich seine emotionale Bindung an die Muttersprache, die einen Effekt auf die Mehrsprachigkeit haben.

Ausblick

Im Nachgang zu diesen Ergebnissen stellt sich die Frage nach einer sinnvollen und gerechten Sprachpolitik für Europa. Diejenigen, die mehrere Sprachen sprechen, können den europäischen Wirtschaftsraum für sich nutzen und ihre Berufsmöglichkeiten und ihr Einkommen verbessern; sie haben es leichter, mit Bürgern anderer Länder in Kontakt zu treten, wirtschaftlich oder wissenschaftlich zu kooperieren, politische Verhandlungen zu führen, Proteste über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu organisieren, Liebesbeziehungen einzugehen etc. Diejenigen, die nur ihre Muttersprache sprechen, sind an ihr Land gebunden und können die Vorteile des vereinten Europas und einer globalisierten Welt nicht nutzen. Wenn man aus Gründen der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit möchte, dass die Beteiligungschancen der Bürger Europas am europäischen Einigungsprozess insgesamt erhöht werden, dann muss man die Menschen insgesamt und besonders diejenigen der unteren Klassen mit entsprechender Sprachkompetenz ausstatten. Zur Erreichung dieses Ziels gibt es zwei Möglichkeiten. Dies ist entweder die Förderung der allgemeinen Mehrsprachigkeit der Bürger oder die Förderung einer „Lingua franca“ in Europa. Viele Argumente sprechen dafür, die Dominanz des Englischen als „Lingua franca“ in Europa nicht nur notgedrungen zu akzeptieren, sondern politisch aktiv zu fördern und dies auch auf Kosten der Förderung anderer Sprachen. Eine gemeinsame Fremdsprache würde die Entwicklung Europas in verschiedenen Dimensionen beschleunigen und die Menschen in Europa näher zusammenbringen.

Publikationen

Gerhards, J. (2012). From Babel to Brussels. European Integration and the Importance of Transnational Linguistic Capital. Vol. 28, Berlin Studies on the Sociology of Europe (BSSE). Berlin: Freie Universität Berlin.

Gerhards, J. (2012). Plädoyer für die Förderung der Lingua franca Englisch. Aus Politik und Zeitgeschichte (4). 51-57.

Gerhards, J. (2012). Sprachliche versus soziale Hegemonie: Die Bedeutung eines kleinen Unterschieds am Beispiel des Englischen. Soeffner, H.-G. (Ed.), Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt / Main 2010. 997-1001. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Gerhards, J. (2012). Transnationales sprachliches Kapital als Ressource neuer Ungleichheit in einer globalisierten Welt. Soeffner, H.-G. (Ed.), Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt / Main 2010. 497-508. Wiesbaden: VS Verlag.

Gerhards, J. (2011). Der Kult der Minderheitensprachen. Leviathan 39(2): 165-186. Abstract

Gerhards, J.(2010). Mehrsprachigkeit im vereinten Europa. Transnationales sprachliches Kapital als Ressource in einer globalisierten Welt. Wiesbaden: VS Verlag. Abstract

Gerhards, J.(2010). Mehrsprachigkeit im vereinten Europa. Transnationales sprachliches Kapital als Ressource in einer globalisierten Welt. Wiesbaden: VS Verlag.

Gerhards, J. (2010). Transnationales linguistisches Kapital der Bürger und der Prozess der europäischen Integration. Monika Eigmüller, S. M. (Ed.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung. 213-244. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.