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Affektpoetiken im Musiktheater nach 1945

Wie kann Liebe in post-tonalen Musikidiomen dargestellt werden, und wie stellen sich Komponisten nach 1945 der Herausforderung, eine der wichtigsten existentiellen Erfahrungen des Menschen in ihrer spezifischen Musiksprache zu artikulieren?

Projektnr.: G 108

Lydia Rilling

Thema der Dissertation ist die spezifisch musikalisch-literarische Modellierung von Affekten im Musiktheater nach 1945. Musik- und Literaturwissenschaft verbindend, soll am Beispiel des in der Operngeschichte zentralen und traditionsreichen Affektes der Liebe anhand von sechs Musiktheaterwerken untersucht werden, welche Beziehungen zwischen Affekten und musikalisch-literarischen Zeichentechniken und -praktiken, also welche Darstellungsmodi von Affekten nach 1945 entwickelt werden.

Wohl kaum eine Gattung gilt in der abendländischen Kunstmusik als derart affektgeladen wie die Oper. Die Dominanz des Affektiven ist in Hinblick auf bestimmte Abschnitte der Operngeschichte, wie z.B. das 19. Jahrhundert, unbestritten. Für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach 1945, stellt sich die Rolle des Affektiven hingegen als weitaus weniger eindeutig und als problematischer dar. 

Diese Arbeit folgt der Ausgangsthese, dass die Dimension des Affektiven keineswegs aus dem Musiktheater nach 1945 verschwindet und musikalisch-literarische Ausdrucksqualitäten auf emotional-semantischer Ebene erhalten bleiben. 

Es lassen sich aber komplexe Prozesse der Transformation, Diversifizierung und Differenzierung beobachten. So werden die Modi der Artikulation von Affekten entsprechend der jeweiligen zeitgenössischen Ästhetiken transformiert und an die jeweiligen Musiksprachen angepasst. Diese Artikulationsmodi mögen sich zwar zum Teil weit von den traditionellen Affektrhetoriken der Oper entfernt haben und mit deren Kategorien nicht mehr zu fassen sein, auch da sie teilweise auf anderen Rezeptionsmodi beruhen, dennoch wird damit die emotionale Dimension des Musiktheaters keinesfalls eliminiert.
Die musikalisch-literarische Modellierung von Affekten im Musiktheater nach 1945 lässt sich paradigmatisch an einem der wichtigsten Affekte der Operngeschichte aufzeigen – dem Affekt der Liebe. Weder mit dem Beginn der ästhetischen Moderne noch nach 1945 wird der Affekt der Liebe von der Bühne des Musiktheaters verbannt, doch wird seine künstlerische Darstellung zunehmend problematisch.

Die Frage, die sich bereits angesichts der Sprach-, Form- und Sinnkrisen, aus denen die Moderne aufbricht, stellt, gewinnt nach 1945 noch entscheidend an Schärfe: wie kann Liebe mit den musikalisch-literarischen Zeichentechniken der zeitgenössischen ästhetischen Positionen entsprechend der jeweiligen Welt- und Liebesvorstellungen thematisiert und dargestellt werden? Für die Musik konkret formuliert: wie kann Liebe in post-tonalen Musikidiomen dargestellt werden? Wie stellen sich Komponisten nach 1945 der Herausforderung, eine der wichtigsten existentiellen Erfahrungen des Menschen in ihrer spezifischen Musiksprache zu artikulieren?